
Stilgebundene historische Klavierimprovisation (HfMT Hamburg und HMT Rostock, semesterweise wiederkehrend)
Unsere tradierte Musik ist durchwoben von einem Netz immer wiederkehrender Satzmodelle, die über Epochen und individuelle Stile hinweg funktionieren. Diese Strukturen sollen - im wahrsten Wortsinn - "begriffen" werden. Vor dem Hintergrund des Allgemeinen erspürt man so die besondere Ausprägung einer Zeit oder eines Komponisten. Dabei steht weniger der Akkord im Mittelpunkt als die Melodie, die Bewegung beider Hände in der melodischen Fläche. Ziel ist es, deren Bewegungen untrennbar miteinander zu verknüpfen und sich so die Freiheit zu erarbeiten, große musikalische Zusammenhänge fantasievoll und doch kontrolliert zu gestalten. Am Instrument begibt man sich auf eine Reise in verschiedene Zeiten und Stile, wobei das eigenkreative Tun Hand in Hand geht mit dem Wiederentdecken in den überlieferten Kompositionen. Die Nähe zu den Erfahrungen im Literaturspiel, zum Generalbaß und auch zum liturgischen Orgelspiel ergibt sich von selbst. Folgende Stile stehen zur Wahl: Clavierfantasie C.Ph. E. Bach, barocke Suite, Chaconne, Choralbearbeitung und -partita Bachstil, Fuge, Fantasie Byrd/Sweelinck und Stylus phantasticus, Variationen Mozart / Haydn, Ländler (Schubert), Mazurka und Nocturne (Chopin), Intermezzo (Brahms), Debussy und Messaien.
Gruppenimprovisation mit Melodieinstrumenten (HMT Rostock, semesterweise wiederkehrend)
Kammermusik ohne Noten und Dirigenten - Zunächst werden wir spielerisch zueinander finden: gemeinsam beginnen und aufhören ohne Blickkontakt, Dialogspiele, Töne tauschen. Das „erlaubte Material“ ist zunächst vollkommen frei, wird sich dann aber durch Übungen konkretisieren: Spiel mit Dur-Moll-Tonalität, Skalensysteme (Kirchentonarten, Modi des 20. Jhs., fernöstliche Skalen), Polytonalität, Ton, Geräusch und Farbe, rhythmische Ostinatoflächen, Tänze. Wir werden Gesten, Abläufe und Instrumentationsmöglichkeiten entdecken und uns dabei von großen Vorbildern anregen lassen: Bartók, Schostakowitsch, Strawinsky, Debussy, aber auch Ligeti, Lachenmann oder dem Minimalismus. Die Einbindung der Gesangsstimmen bedeutet, daß wir auch die improvisatorische Reaktion auf verschiedene Texte ausloten werden. Sologesang, chorische Blöcke und gesprochene Sprache im Dialog mit den Instrumenten werden dabei eine Rolle spielen. Schließlich werden wir die Kunst der Stummfilmmusik wiederbeleben. Unsere Arbeit wird in ein Abschlußkonzert münden.
Aufführungspraktische Analyse - Analyse durch Improvisation (HfMT Hamburg, Seminar für Hauptfachstudierende Dirigieren, semesterweise wiederkehrend)
In diesem Seminar wird das Repertoire, das aktuell in der Dirigierklasse erarbeitet wird, kompositionstechnisch ausgeleuchtet. Dabei geht es darum, den gegebenen Notentext als nur eine von vielen Möglichkeiten zu begreifen, für die sich letztlich der Komponist irgendwann einmal entschieden hat. Die anderen jedoch, die scheinbar verworfenen, schweben nach wie vor im Raum. Sie liegen nicht stumm im Papierkorb; zwar unhörbar und doch präsent bestimmen sie das musikalische Geschehen mit. Diese Möglichkeiten und deren Bedingungen wollen wir improvisatorisch am Klavier entdecken, um so der Partitur, wie sie vor uns liegt, eine neue und frische Dynamik zu verleihen. Daraus ergibt sich die entscheidende und spannende Frage: wie wirken sich diese Erkenntnisse auf die Aufführungspraxis aus?
Beethoven, Missa Solemnis op. 123 (HfMT Hamburg und HMT Rostock, SS 20)
Welchen Spielraum hat Beethoven nach der H-Moll-Messe J.S. Bachs? Gesetzt, Beethoven hat sie gekannt, muß sie ihn bei der Komposition seiner Missa Solemnis beeinflußt haben, ebenso wie die Messen Mozarts und Haydns. Allgemeiner gesprochen stellt sich die Frage, wie Beethoven die Welt Bachs mit der der sinfonischen Welt der Wiener Klassik und seiner eigenen sinfonischen Sprache vereint. Der kompositionstechnische Aspekt ist der eine, vor allem mit Blick auf die Fuge, deren strenge, kontrapunktische Aura im Dona nobis pacem zu einem unerhörten, tumultosen Schlachtengetümmel mutiert. Der hermeneutische, religiöse Aspekt ist der andere: Ist Beethovens Messe eigentlich ein weltliches Credo mit jeder Menge Kant und Hegel im Gepäck? Indem Beethoven selbst fordert: „Gutes tun, wo man kann, die Freiheit über alles lieben, die Wahrheit nie, auch vor dem Throne nicht, verschweigen“; kommt ein moralphilosophisches Hoffnungsideal ins Spiel, das im Trompetensignal des Fidelio seinen beispielhaften Ausdruck findet und auch für die Missa Solemnis bedeutsam ist. Zwei formale Fluchtpunkte gibt es: die Naturmusik des „Incarnatus“ und eben jene Schlachtenmusik, aus der das „dona nobis pacem“ erwächst: „Bitte um inneren und äußeren Frieden“.
Monteverdi und die Seconda Prattica (HfMT Hamburg und HMT Rostock, WS 19/20)
„Seconda Prattica“ ist im Grunde ein anderer Begriff für „Neue Musik“. So nannte Monteverdi den neuen, theatralischen Kompositionsstil, der gleichzeitig den Beginn der Oper markiert. Welcher Mittel bedient sich seine Musik, um der Klangrede und dem Affekt zu dienen? Dazu werden wir einige Madrigale, den „Orfeo“, die „Marienvesper“ und die „Incoronazione di Poppea“ studieren. Die Kategorien, die wir dabei entdecken, werden wir in Bezug setzen zur Malerei des 15. Jahrhunderts. Wir werden die Briefe Monteverdis an seinen Bruder lesen und den Streit mit seinem Widersacher Artusi verfolgen. Schließlich werden wir verschiedene Interpretationen und Aufführungen miteinander vergleichen, um wichtige Aspekte der historischen Aufführungspraxis dieser Zeit besser zu verstehen. Dabei wird auch der Tanz und die rhetorische Bedeutung pantomimischer Bewegungen einen Rolle spielen.
Literatur:
- Silke Leopold: Monteverdi und seine Zeit. 3. Auflage. Laaber-Verlag, Laaber 2002
- Geschichte der Musiktheorie, Band 5, Italienische Musiktheorie im 16. und 17. Jahrhundert; Herausgegeben von Frieder Zaminer, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1989
- Michael Baxandall: Die Wirklichkeit der Bilder, Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Wagenbach Verlag 1987
- Dietrich Bartel: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, Laaber-Verlag 1985
- Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers Christoph Bernhard, hrsg. von Joseph Müller-Blattau, Bärenreiter 1999
- Karlheinz Taubert: Höfische Tänze - Ihre Geschichte und Choreographie, Schott, Mainz 1966
Notenmaterial:
- Claudio Monteverdi:
- Madrigale, 4., 5. und 8. Buch
- L’Orfeo, Favola in Musica
- Marienvesper (Vespero della Beata Virgine)
- L’Incoronazione di Poppea
Bach, Solosuiten und Partiten (HfMT Hamburg (mit Prof. Dr. Jan-Philipp Sprick und HfK Bremen, SS19)
Die reine Einstimmigkeit galt im Früh und Hochbarock als hohe Kunst. Das liegt daran, daß es sie eigentlich gar nicht gibt. Denn ein einsames Soloinstrument muß den zugrundeliegenden Generalbaß mit wenigstens zwei hinzutretenden Konturstimmen in sein Melos integrieren. Das bedeutet, daß wir es bei den Solowerken J.S. Bachs mit komplexen kontrapunktischen Konstrukten zu tun haben, die sich bis zu 5 und 6-stimmigen Sätzen entfalten. Sie stehen im Dienste reicher Ornamentik, musikalisch-rhetorischer Figuren und differenzierter Ausbildung musikalischer Affekte. Dabei ist deren Form sehr viel extravagnter und „wilder“ als die der Suiten und Partiten für Cembalo. Wir werden uns diesen Solowerken annähern, indem wir auch historische Vorbilder (wie „der Fluiten Lusthof“ von Jan van Eyck), kontemporäre Werke (wie die Fantasien Telemanns für Flöte oder Violine) und Rezeptionen (wie die a-moll-Fantasie für Flöte solo von C.Ph.E. Bach) hinzuziehen. Wenn noch Zeit ist, werden wir einen Ausblick in die Moderne wagen (Debussy, Henze, Hindemith, Sciarrino).
Werke:
J.S. Bach: Partiten für Violine solo, Suiten für Cello solo,Partita a-moll für Flöte solo
Jan van Eyck:
„Der Fluiten Lusthof“ für Flöte solo
G.Ph. Telemann
12 Fantasien für Flöte solo, 12 Fantasien für Violine solo
C.Ph.E. Bach
Fantasie a-moll für Flöte solo“
Moderne
Henze, Serenade für Cello solo, Hindemith, Bratschensonate op. 25, Sciarrino, Etüden für Violine solo, Debussy, Syrinx für Flöte solo“
Bach, Goldbergvariationen (HfMT Hamburg und HMT Rostock, SS 19)
Eine Aria mit 30 Variationen über ihren Baß: In ihr bilden Ein- und Ausatmung, Spannung und Entspannung, Ausfahrt und Heimkehr eine vollkommene Einheit. Wir werden beobachten, wie sich der Baß aus einfachen ostinaten Chaconnebässen organisch zu seiner 32-taktigen Form entfaltet. Wir werden sehen, wie in diesem Baß sowohl die Suite als auch die spätere Sonate angelegt ist. Wir werden den langen Weg des Variationenzyklus bestaunen, der gewissermaßen ein Lebensweg ist. Er führt zum ungeheuren Abstieg in der 25. Variation und kehrt zurück zur Aria über das Quodlibet. Das ist nicht nur eine Reprise, sondern eine Heimfahrt. Ein Weg, der gepflastert ist mit kontrapunktischen Capricen, denn jede dritte Variation ist ein Kanon. Wie sind diese Kanons gemacht, welche Techniken lehrt uns Bach? Warum fehlt ein Oberterz und Oberquartkanon? Wir werden darüber hinaus versuchen, ein Rätsel zu lösen: In den 14 Kanons über die ersten 8 Takte des Goldbergbasses BWV 1087 brachte Bach folgende Notiz an: „Christus coronabit Cruzigeros“ - „Christus krönte die Gekreuzigten“. Was verbirgt sich wohl dahinter? Und schließlich: Woher kommen die Goldbervariationen, wohin führen sie? Vorgängerwerke (von Buxtehude, Frescobaldi, del Buono und Monteverdi) und Nachfolgerwerke (von Beethoven, Brahms und Webern) werden uns helfen, zu verstehen, welches Erbe die Goldbergvariationen fortführt und vollendet und welchen enormen Einfluß sie auf nachfolgende Generationen hatten.
Beethoven (HfMT Hamburg und HMT Rostock, WS 18/19)
Anhand ausgewählter Stücke werden wir einen Bogen spannen vom Früh- zum Spätwerk, von den Klaviersonaten zu den Sinfonien und Streichquartetten: Welche formalen Kategorien gibt es? Welche Rolle spielt die Melodie und wie tritt sie in Dialog zur prozesshaften, kon- fliktbeladenen Dynamik, aus der sie geboren wird? Wie entfaltet Beethoven ein Werk aus einer einfachen Idee, die das Geschehen im Kleinen wie im Großen bestimmt? Gibt es charakteristische Tonartenbehandlungen? Wie greift die Kunst seiner Klavierimprovisation und die Klavierfantasie als solche in die Komposition ein? Schließlich werden wir einen Blick über den musikalischen Tellerrand wagen und erkunden, wie die napoleonische Zeit und die auf sie folgende Restauration Einfluß genommen haben mag auf seine Musik. Wir werden Hegel hinzuziehen und mit ihm die philosophische Kategorie der „Freiheit“ und des „per apera ad astra“, „durch Mühsal zu den Sternen“. Und wenn Beethoven schreibt, daß ihm die „Cavatina“ des Streichquartetts op. 130 beim „Anblick des bestirnten Himmels“ eingefallen sei, so dürfen wir auch an Immanuel Kant denken. Denn sein Satz „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ klingt wie eine Überschrift über die Musik Beethovens.
Bruckner, Sinfonien und Motetten (HfMT Hamburg und HMT Rostock, SS 18)
Wir wollen uns der musikalischen Sprache Anton Bruckners in kontrapunktischer, harmo- nischer, formaler und modellhafter Hinsicht nähern - eine Sprache, die er in seinem Leben erst relativ spät, jenseits des 40. Lebensjahres, entfaltete. Bruckner hatte, anders als seine Zeitgenossen Brahms und Wagner, einen akademischen und pädagogischen Hintergrund: er war jahrelang Student bei Simon Sechter und auch selbst lebenslang ein engagierter Lehrer. Diesen biografischen Hintergrund wollen wir nutzen, indem wir die Generalbaßübungen von Sechter als auch die von Bruckner studieren, um die handwerklichen Voraussetzungen zu verstehen, mit denen er seine großen Werke schuf. Ein zweiter Aspekt wird sein, inwieweit sich Bruckners Improvisationskunst an der Orgel in seinen Kompositonen spiegelt. Schließlich wird uns der Historismus und Cäcilianismus beschäftigen, den Bruckner zwar immer abgelehnt hat, dessen Spuren aber in seiner Musik allgegenwärtig sind. So werden wir wahrnehmen, daß seine Werke einen spannungsvollen Bogen schlagen zwischen Alter Musik des 17. Jahrhunderts und einer Tonalität, die an die Grenzen der Auflösung geht. Hierbei werden wir auch die verschiedenen Fassungen der Sinfonien studieren, die Bruckner hinterlassen hat.
Literatur:
Leopold Nowak: Anton Bruckner – Musik und Leben (3. Auflage), Rudolf Trauner Verlag, Linz 1995
Anton Bruckner: Kurze Generalbaßregeln (verfügbar auf Imslp)
Simon Sechter: Praktische Generalbaßschule (verfügbar auf Imslp)
Bruckner:
Sinfonien 5-9
Motetten:
Tota pulchra es Maria, Os justi, Christus factus est
Schostakowitsch (HMT Rostock, WS 17/18)
Der jüngst erschienene Roman von Julian Barnes „Der Lärm der Zeit“ über Schostakowitsch soll Anlaß genug sein, einige wesentliche Aspekte seines Schaffens herauszuarbeiten. Bei kaum einem anderen Komponisten ist das Werk so sehr verbunden mit der eigenen Biografie und den politischen und gesellschaftlichen Katastrofen seiner Zeit. Seine Musik kann man begreifen als die künstlerische Transformation seiner Ängste und der sich aus ihnen manifestierenden lebenslangen Depression. Die Frage wird sein, welchen Kompositionstechniken und Stilmitteln wir in seiner Musik begegnen. Hier werden die Kategorien „Formalismus“, „Verfremdung“ und „Strenge“ eine wichtige Rolle spielen. Wir werden die Ausformungen seines Anagramms „D-S-C-H“ wahrnehmen, ebenso wie die für Schostakowitsch zentrale Form der Passacaglia - aber auch die grotesken Tänze, die seine Sinfonien durchziehen und die auf den frühen, expressionistischen Stummfilm zurückgehen.
Werke:
Präludium und Fuge a-moll und C-Dur für Klavier
Filmmusik zu „Das Neue Babylon“ von Kosintsev/Trauberg (Link s.u.)
„Eine Lady Macbeth aus Msenzk“op. 29, 4. Akt, Schluß (Monolog der Katharina), 1. Fassung
1. Violinkonzert a-moll op. 99, 3. Satz (Passacaglia)
8. Sinfonie c-moll op. 65, 3. und 4. Satz
Klaviertrio e-moll op. 67, 1. und 2. Satz
15. Sinfonie A-Dur, op. 141, 1. Satz und Passacsaglia
10. Sinfonie e-moll, op. 93 1. Satz, Allegretto und Finale
14. Sinfonie op. 135, „ O Delwik“ und „Tod eines Dichters“
8. Streichquartett c-moll op. 110
Sonate für Viola und Klavier op. 147
Literatur:
Solomon Volkow, Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch, List, München 2003,
Elizabeth Wilson, Shostakovich – A Life Remembered, Princeton University Press, Princeton 1995
Julian Barnes, Der Lärm der Zeit, Kniepenheuer und Wisch, 2017
Film:
„Close-up: Schostakowitch“ (https://youtu.be/kyLj6qN2ouA)
„Das Neue Babylon“ (https://youtu.be/cyOhcTuFYe0)
Richard Strauss - Ausgewählte Opernszenen und Lieder (HfMT Hamburg, WS 17/18)
Was zeichnet die Musik von Richard Strauss aus? Ist es nur die Übersättigung des romantischen Sprachidioms oder vielmehr das beeindruckende Erbe Mozart’scher Feinfühligkeit und Luzidität? Immerhin läßt Strauss seine Musik aussprechen, was auch die Kunst Mozarts wie kaum eine andere vermag: einander widerstreitende Gefühlssituationen, die die Protagonisten gleichzeitig lachen und weinen lassen. Es ist das Dur des Abschieds, wie wir es von Mozart und Schubert kennen, und wie es Strauss geradezu übersteigert. Die größte Kunst sei es, so Strauss, einen guten Walzer zu schreiben. Also spielt auch sein berühmter Namensvetter Johann Strauss eine nicht unerhebliche Rolle, will man sich seiner Kunst nähern.
Strauss schafft mit seiner Musik ein kraftvolles Spannungsfeld zwischen dem hingebungsvoll-leisen Achselzucken der Marschallin im Rosenkavalier, mit der sie die Jugend ihres Geliebten segnet und ihn gehen läßt, und der Shakespearhaften Spiegelung von Komik und Tragik in der Ariadne, mit den Antipoden Komponist und Zerbinetta; zwischen dem Wahnsinn der griechischen Tragödie in der Elektra und Salome und dem subtilen Wechselspiel zwischen illustrativer Textausdeutung und autonomer, geradezu instrumentaler Gesangsbehandlung wie in den vier letzten Liedern. Wir werden uns von ausgewählten Stellen aus diesen Werken an die Hand nehmen lassen.
Die vier letzten Sinfonien Mozarts: D-Dur, Es-Dur, g-moll, C-Dur (SS 2017)
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein schrieb einmal, daß der Ort, zu dem er gelangen wolle, nicht über eine Leiter zu erreichen sei. „Dort, wo ich wirklich hin muß, dort muß ich eigentlich schon sein“. Dieses Bild der Aszendenz findet seine Antithese in dem Satz: „ Steige nur immer von den kahlen Höhen der Gescheitheit in die gründenen Täler der Dummheit“. Ich denke, daß die Thesen Wittgensteins eine probate Überschrift sind, um sich den letzten Sinfonien Mozarts zu nähern. Denn die „analytische Leiter“, auf der man meint, hinaufzusteigen, liefert zwar Erkenntnisse über die Handwerkskunst, die diese Musik hat entstehen lassen, sagt aber nur wenig über deren ungeheure und eigentlich unerklärliche Größe. Sie kommt an der Oberfläche einfach und durchschaubar daher, im Kern aber zeigt sie, wie sehr unserem Bemühen um Erkenntnis und Vermittlung Grenzen gesetzt sind. So wollen wir, im Sinne Wittgensteins, „Musikspiele“ versuchen in Fom kategorialer Annäherungen, die vielleicht als Sackgassen enden, doch wer weiß: vielleicht helfen sie uns, den „göttlichen Vorhang“, der das Rätsel Mozart verbirgt, ein ganz kleines Stück zu lüften.
Seminar ohne Namen (mit Prof. Dr. Manfred Stahnke, HfMT Hamburg, SS 2017)
In diesem Seminar stellen wir unsere aktuellen Projekte vor: Bücher, Aufsätze und Kompositionen „in progress“. Wir werden über unsere Ideen, unsere Ziele, unseren Schaffensprozess und den jeweiligen Stand der Dinge berichten. Das soll eine Einladung sein, sich anregen zu lassen, aber auch eine Einladung zur kritischen Reflexion. Gleich ob wir Gemeinsamkeiten finden und Reibungsflächen: wir werden Zeugen sein des „unendlichen Spasses“, den es macht, musikalische Zusammenhänge immer wieder neu zu entdecken, sich an den Entdeckungen zu weiden und sie wieder zu verwerfen. Dabei wird es um die beiden großen Rätsel gehen, die uns immer und immer wieder umtreiben: Intuition und Kreativität. Und wir wollen auch unsere gemeinsame Arbeit der letzten Jahre Revue passieren lassen, zu den gestellten Fragen neue hinzufügen, die gewonnen Erkenntnisse revidieren und mit einem schwankenden Ton zu einem offenen Ende führen.
Klavierimprovisation für Komponisten (Wintersemester 2016/2017)
Dieses praktische Seminar richtet sich speziell an Hauptfachstudierende Komposition und Musik- theorie. Als Ausgangspunkt dienen 14 Baßlinien des 18. Jahrhunderts, in denen modellhafte Se- quenz- und Kadenzsituationen zu größeren grammatikalischen Einheiten zusammengesetzt sind. Sie bilden die Grundlagen unserer gemeinsamen Reise. Wir führen die Bässe zurück in die archaische Sprache des 16. und 17. Jahrhunderts, vollziehen die langsame Anreicherung nach bis Bach, lockern sie auf und vereinfachen sie, um beim klassischen Rokkoko vorbeizuschauen und verdichten sie erneut, um sie durch das 19. Jahrhundert zu führen. Am Ende steht die maximale Verdichtung und gleichzeitig deren Auflösung ins Klanglich-Geräuschhafte durch Spieltechniken von Cowell, Ives und Crumb.
Das Projekt mündet in ein öffentliches Improvisationskonzert, wo wir den Gedichtzyklus „Die drei- zehn Monate“ von Erich Kästner durch 14 Improvisationen spiegeln.
Komposition und Improvisation (mit Prof. Dr. Manfred Stahnke, HfMT Hamburg, WS 2016/2017)
Was sind die Gemeinsamkeiten, was die Unterschiede zwischen Komposition und Improvisation? Dieser Frage wollen wir nachgehen, indem wir nach Referenzen suchen in der musikalischen und quellenkundlichen Literatur über mehrere Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart. Dabei streifen wir den Jazz nur am Rande, denn das ist ein eigenes Thema.
- Einführung: Organisation der Zeit oder Gefangener des Moments? Freiheit des Flüchtigen oder Endgültigkeit des einmal Gesagten? Eine kurze Geschichte der Unwägbarkeit
- Frühe Quellen: Codex Robertsbridge und Codex Faenza
- Die Diminutionszeit und die norddeutschen Koloristen
- Sweelink und Frescobaldi, Caccini und Monteverdi
- Die italienische Tradition des 17. Jhs.: Contrapunto alla mente
- Fuge und Choral: comprehensiver und ornamentaler Kontrapunkt
- Ein kurzer Gang durch die Goldbergvariationen
- Wesentliche Manieren und willkürliche Veränderung - französischer und italienischer Stil
- Generalbaß und Improvisation: Muffat, Niedt, Heinichen, J.S. Bach, Händel, Wiedeburg
- Die „Freye Phantasie“: Carl-Philipp-Emanuel Bach
- Die Klavierkadenz bei Mozart, auch in seinen Sonaten
- Die Variation bei Mozart, Haydn und Beethoven
- Elemente der freien Fantasie in den Sonaten Beethovens
- Czerny, Thalberg, Liszt - Klavierimprovisation des 19. Jhs.
- Skalengebundene Improvisationsformen seit dem Impressionismus: Pelog, Slendro, Messiaen’-sche Modi, Kumoi, Iwato, Melakarta-Skalen.
- Kagel und das Staatstheater
- Hespos und die gnadenlose Wildheit des Freien
- Jazz: die Notation des „Köln-Konzerts“ von Keith Jarret
- Free-Jazz und zeitgenössische Klassik
- Neu trifft alt: Schnittkes Kadenz zu Beethovens Violinkonzert und Müller-Siemens’ Kadenz zumzweiten Satz von Bachs 3. Brandenburgischem Konzert
- Ligeti, die Polyrhthmik und deren Einfluß auf die Improvisation
- Island, Grönland und die improvisierte Musik auf Eisinstrumenten
- Aktuelle Improvisationsformen: Eine Entdeckungsfahrt in die Welt mikrotonaler Möglichkeiten
Schubert (HfMT Hamburg, WS 2016/2017)
„Es gibt keine lustige Musik“. Das soll Schubert geantwortet haben, als er als Komponist der „lusti- gen Ländler“ angesprochen wurde. Seine Musik berührt die Grundaffekte der Romantik - Fremd- heit, Abschied und Sehnsucht. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, daß wir unsere heutigen Er- fahrungen mit diesen Gefühlen nicht ohne Weiteres auf die Menschen des ausgehenden Biedermeier übertragen können. Hier beginnt unsere Spurensuche nach dem Blick und dem Ohr jener Zeit. - Schubert hat seine Musik nach eigenem Bekunden geträumt. Es tritt also etwas in die Musik ein, das wir „Wahnhaft“ nennen können, das sich äußert durch eine Art Zustandhaftigkeit, die in sich gekrümmt ist und letztlich zur Erstarrung führt, wie im 2. Satz des Streichquintetts C-Dur oder im 1. und 2. Satz der späten späten B-Dur-Klaviersonate. Ist diese Erstarrung bedrohlich oder erlösend?, das ist die Frage - Wir werden sehen, wie der Tanz und vor allem das Lied Einzug hält in sein Instrumentalschaffen und in die späten Sonaten und Streichquartette, in das Oktett und in die Sinfonien. Dort aber wird es zersetzt, es zerfließt vor unseren Ohren, wie auch Dur und Moll inein- ander übergehen und zerfließen. Der Vergleich zu Beethoven und Mahler liegt nahe. Wir werden ihn wagen, indem wir die Introduktion zu den „Trockene Blumen“- Variationen den langsamen Ein- leitungen von Beethovens 4. Sinfonie und Mahlers 1. Sinfonie gegenüberstellen. Auch werden wir Wagner bemühen, seine erste Orchesterüberleitung aus dem „Rheingold“ im Vergleich zum Scherzo des d-moll-Quartetts. Die Rezeption im 20. Jahrhundert werden wir durch zwei Filme erkunden: „Fremd bin ich eingezogen“ von Titus Leber und „Winterreise“ von Hans Steinbichler. Ergänzend werden wir untersuchen, wie Schnebel die späte G-Dur Klaviersonate Schuberts in seinem Orchsterstück „Tradition“ verarbeitet.
Letzte Werke (HfMT Hamburg, SS 2016)
Unter die Partitur des Parsifal hat Wagner geschrieben: "Es ist vollbracht! Mehr habe ich nicht zu sagen!" Dieses Pathos erhebt nicht nur seine letzte Oper, sondern auch sein nahes Lebensende zum religiösen Kunstwerk. Solches findet man ebenso bei der von C.Ph.E. Bach inszinierten Verklärung des Contrapunctus 19 aus der "Kunst der Fuge", wo der Tod seinem Vater angeblich die Feder aus der Hand reißt, gerade als sein Anagramm BACH dabei ist, sich mit den drei anderen Fugenthemen zu vereinen. Dieses Seminar ist nicht einem Komponisten, einer Gattung oder einem Werk gewidmet, sondern dem biografischen Zeitpunkt, an dem ein Stück entstand: am Ende eines Lebensweges. Es geht also um letzte Werke, die wir über eine Spanne von über 300 Jahren Musikgeschichte hinweg erkunden wollen. Die Frage dabei wird sein: Wie erklärt sich ein gegangener Weg vom Ziel her? Ist die These richtig, dass im Spätwerk die Substanz eines Stiles oder einer persönlichen Sprache besonders klar wird, wie ein zusammenfassendes Destillat aus vorangegegangenen Prozessen, ein Spiegel der Erfahrungen eines zurückgelegten Weges? - Außerdem spielt (nicht immer, aber oft) der Torso dabei eine große Rolle. Einerseits im Sinne der Restaurierung, also der Ergänzung eines unvollendet hinterlassenen Werkes. Anderseits drängt sich die Frage auf, ob das Unvollendete nicht auch generell eine musikalische, eine künstlerische Gestaltungskategorie ist. Mit anderen Worten: sagen die Torsi der Sklaven Michelangelos mehr über seine Kunst aus als die vollendete und vollkommene Pietà?
Literatur und Hörempfehlungen:
Frescobaldi, Fiori Musicali;
Monteverdi, Incoronazione di Poppea;
Bach, Cp 19 (Kunst der Fuge), Credo aus der H-Moll-Messe;
Mozart, Clemenza di Tito und Requiem; Streichquintett Es-Dur;
Haydn, Streichquartett op.103;
Beethoven, Streichquartett op.135;
Schubert, Streichquintett C-Dur, 10. Sinfonie D-Dur;
Brahms, Choralvorspiele op.122;
Bruckner, 9.Sinfonie, Adagio;
Mahler, 10.Sinfonie, Adagio;
Berg, 5 Orchesterstücke aus Lulu;
Bartók, Bratschenkonzert
Wege in die Moderne - die Musik nach 1945 (mit Prof. Dr. Manfred Stahnke, SS 2016)
Adorno schreibt 1949 den berühmt gewordenen Satz "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch." Scheint es hier noch so, als würde er nach den Erfahrungen des Grauens jede künstlerische Äußerung negieren, so fügt er in den Folgejahren mehrfach relativierende Fußnoten hinzu, etwa die, daß jegliche Kultur "bewußtlose Geschichtsschreibung" sei. Wie man sich auch dazu positioniert: daß die Kunst und damit auch die Musik sich in den Nachkriegsjahren bis in die frühen 70er Jahre in einem Spannungsfeld befindet zwischen individueller Kreatitivität des Komponisten einerseits und gesellschaftlich-geschichtlichen Scopos andererseits, scheint außer Frage. Wir werden es also mit einem Thema zu tun haben, das sich von der Zeit des Wiederaufbaus, des Wirtschaftswunders, der Restauration, bis hin zur Studentenbewegung der 68er und den aus ihr erwachsenen radikalisierten Folgen befaßt. Mit anderen Worten: Musik der "bleiernen Zeit", wie Margarethe von Trotta es nannte. Hierzu rufen wir sehr verschiedene Komponisten in den Zeugenstand: Richard Strauss mit seinen "Metamorphosen", die sein persönliches Erleben des zerstörten Dresden im Geiste der Romantik transzendieren. Karl-Amadeus Hartmann, der komplexe Kontrapunktiker und Polystilist (Lamento, Ghetto, 4. Sinfonie). Bernd Alois Zimmermann, den seine innere Emigration in die Depression führte (Tratto, Photoptosis, Ekklesiatische Aktion). Hans Werner Henze, der sich mit der verlogenen Adenauer-Republik anlegte (Floß der Medusa, Versuch über Schweine). Luigi Nono, dessen Werk ohne politische Motivation gar nicht denkbar ist. Lachenmann und sein "Mädchen mit den Schwefelhölzern". Und wir werden uns auch befassen mit Komponisten, die sich eher immanent kulturell oder kultur"politisch" verortet haben, wie Pierre Boulez oder György Ligeti. Hier wird poetisch geborene "Welterkenntnis", die sich mit unserer Wahrnehmung, aber auch mit Naturwissenschaften oder Philosophie auseinandersetzt, eine große Rolle spielen.